Mitte Oktober war es – etwa zwei Wochen nach Erntedank. Da fand man den Jungbauern.
Mitte 20 war er erst gewesen, aber schon ziemlich erfolgreich. Mit dem Getreide auf den Feldern wolle er nichts zu tun haben, hatte er dem Vater schon vor seinem 20sten Geburtstag mitgeteilt. Das sei ihm zu langweilig und zu altmodisch. Schafe und Ziegen züchten, das wäre sein Ding – und zwar total ökologisch-biologisch. Natur pur, das sei die Zukunft der Landwirtschaft. Ob der Vater ihm dafür nicht ein paar Weiden zur Verfügung stellen könne.
Natürlich hat der Vater erstmal komisch geschaut: Biolandwirtschaft? Wer macht denn sowas in unserem Dorf? Schafe und Ziegen? Schweine und Milchkühe, das ist unsere Tradition hier!
Aber er hatte den jüngeren seiner beiden Söhne ziemlich gern, war geradezu vernarrt in ihn. Also konnte er ihm den Wunsch nicht abschlagen. So ging es los mit der Ökolandwirtschaft des Jungbauern: die ersten Schafe und Ziegen; Umstellung der Weiden auf öko; erstmal auch einige Rückschläge.
Im Dorf haben sie natürlich gelacht und getuschelt über den Jungbauern: So ein Spinner! Der wird schon sehen, wie weit er damit kommt! Das dauert zwei, drei Jahre, dann ist er wieder auf dem Boden der Tatsachen.
Aber es kam anders: Der Käse aus Ziegen- und Schafsmilch verkaufte sich nach Anfangsschwierigkeiten sehr gut. Die Wolle wurde vor Ort verarbeitet und verkauft. Ein Streichelzoo mit schönem Spielplatz und kleiner Bewirtung wurde schnell beliebt bei Familien aus dem Umland. Und das Lammfleisch – ein Gedicht, berichteten diejenigen, die es probiert hatten.
Im Dorf redeten sie plötzlich voller Stolz über ihren innovativen Nachbarn, auch wenn einige immer noch den Kopf schüttelten. Der Allerstolzeste war natürlich der Vater, der sich wie wahnsinnig freute über den Erfolg seines Lieblingssohns.
Ganz anders der ältere Bruder, der inzwischen die traditionelle Landwirtschaft des Vaters übernommen hatte: Der war vielleicht genervt. Schließlich war er auch ziemlich erfolgreich; hatte den Ertrag seiner Felder deutlich vergrößert, modernere Ställe für das Milchvieh gebaut; sogar ein bisschen was von seinem Bruder hatte er sich abgeschaut: Verkaufte selbst Backwaren aus eigenem Getreide, Milch und Rindfleisch. Da hätte er sich gerne mit seinem Bruder zusammengetan. Aber der wollte ja nur das, was total bio ist.
Auch der ältere Bruder hatte also Erfolge vorzuweisen. Aber voller Stolz und Anerkennung geredet wurde im Dorf vor allem über den Jüngeren. Und erst recht der Vater: Der konnte den Schaf- und Ziegenzüchter gar nicht genug loben.
Jetzt aber war er am Boden zerstört, der Vater: Sein Liebling tot auf einem Getreidefeld gefunden. Erschlagen mit einem schweren Gegenstand. Überall waren Polizistinnen und Polizisten gewesen, die den Hof auf den Kopf gestellt, die Familie, die Angestellten und Nachbarn befragt hatten.
Irgendwelche handfesten Hinweise auf den oder die Täter hatte die leitende Kommissarin nicht gefunden. Aber mit der Zeit hatte sie ein ganz gutes Bild von den Verhältnissen in Dorf und Familie gewonnen; von dem, was in den Wochen zuvor passiert war.
Erntedank, so hatte einige Dorfbewohner erzählt, Erntedank in der Dorfkirche. Wie jedes Jahr war sie reichlich mit Erntegaben geschmückt: Eine Erntekrone aus Getreideähren; Kartoffeln, Obst, Gemüse, Brot und einiges mehr überall im Altarraum. Und dann diese Wurst, die war neu. Sie hing am Finger einer Heiligenfigur. Eine Wurst aus Bio-Lammfleisch. Und drunter stand ein Korb mit Schafwolle und eine Kanne Ziegenmilch.
Erst waren die Gottesdienstbesucherinnen irritiert: Eine Wurst, hängend an der Hand eines Heiligen? Natürlich waren die Kirchenbänke voller Getuschel vor Gottesdienstbeginn. Bald schon waren die meisten der Ansicht: Wenn ein Brot auf dem Altar liegen darf als Erntegabe, warum dann nicht auch eine Wurst bei einem Heiligen?
Außerdem wussten die Dorfbewohner, wie fein diese Wurst des Jungbauern schmeckte. Er hatte das Rezept selbst erfunden.
Bei der Versteigerung der Erntegaben nach dem Gottesdienst (natürlich für einen guten Zweck) erzielte die Wurst einen Höchstpreis. Und dann wurde sie von demjenigen, der sie ersteigert hatte, auch noch aufgeschnitten und an die Anwesenden verteilt.
Natürlich waren die Wurst und der Hof des Jungbauern das Hauptgesprächsthema an diesem Erntedankfest.
Und der ältere Bruder?, so fragte sich nicht nur die Kommissarin, sondern das ganze Dorf. Der ältere Bruder war an diesem Tag und in den Tagen darauf schweigsam gewesen und wich den Blicken der Menschen aus, die ihm begegneten – auch dem Blick des Bruders und des Vaters.
Dem Bruder fiel das kaum auf. Er war mit seinen Schafen und Ziegen beschäftigt. Der Vater aber bemerkte den finsteren Blick des älteren Sohns. Was ist los mit dir?, fragte er ihn ein paar Tage nach Erntedank. Wer so finster dreinschaut wie du, dem geht es nicht gut. Sprich mit mir darüber oder mit jemand anderem, sonst wird es immer schlimmer!
Der Sohn aber wich dem Gespräch mit dem Vater aus und schluckte seinen Groll hinunter – so gut es eben ging. Vor allem arbeitete er im Stall und auf seinen Feldern. Und dann lag plötzlich sein jüngerer Bruder tot auf einem dieser Felder.
Die Kommissarin hatte keinen handfesten Beweis. Doch ein Motiv, so war ihr bald klar, ein Motiv hatte der ältere Bruder des Mordopfers auf jeden Fall: Neid, Eifersucht, das Übliche eben bei Tötungsdelikten innerhalb einer Familie.
Der Vater – nachdem er den ersten Schock über den Tod seines Sohns überwunden hatte – der Vater spürte erst recht, dass sein älterer Sohn der Täter sein könnte. Am Abend nach der Beerdigung des anderen Sohnes fragte er ihn: Hast Du Dich eigentlich mal mit Deinem Bruder ausgesprochen vor seinem Tod? – Nö, wieso, was habe ich denn mit meinem Bruder und seinem Schaf- und Ziegenquatsch zu tun?
Nach einer Weile des Schweigens fragte der Vater dann direkt: Hast du etwas mit dem Tod deines Bruders zu tun? Der Sohn antwortete nicht, ging nur hinaus und kam einige Zeit später wieder. Schweigend legte er einen großen Schraubenschlüssel auf den Tisch. Während der Vater das getrocknete Blut am einen Ende des Werkzeugs betrachtete, fing der Sohn an zu schluchzen; und auch dem Vater rannen die Tränen über das Gesicht.
Schließlich nahm der Vater den Schraubenschlüssel in die Hand und sagte: Den lasse ich für Dich verschwinden, denn ich will nicht, dass Du im Gefängnis landest. Aber ich kann Dich auch nicht mehr in meiner Nähe ertragen. Du musst weit weg von hier – meinetwegen und wegen der Polizei, die Dich bestimmt bald in die Mangel nimmt. Geh und komm nie wieder zurück. Ich sorge dafür, dass Du im Ausland an Geld kommst.
Als zwei Tage später die Kommissarin vor der Tür stand und den Bruder zum Verhör holen wollte, war er nicht mehr aufzufinden. Und aus dem Vater war kein Wort herauszubringen.
Wie jeder Mordfall wurde dieser nie endgültig zu den Akten gelegt. Und auch im Dorf spricht man noch heute, Jahre später, von dieser tragischen Geschichte und streitet darüber, ob der älter Bruder nun der Mörder war oder doch nicht.