… Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden …
Bin ich vom Messeturm heruntergestürzt? Ist alles nur ein Traum …
Ich schlage die Augen auf und sehe die Himmlischen Heerscharen – hoch über Frankfurt.
Claus, steckst du dahinter? Findest du das lustig? Hol mich lieber hier runter!
Nein, ich bin es! – Ich dachte, es gefällt Ihnen und muntert Sie auf.
Gabriel sitzt neben mir auf einem Liegestuhl unter einem orangefarbenen Sonnenschirm.
Müssen Ihre Leute wohl in Übung bleiben, weil sie wegen Corona nicht auftreten dürfen?
Nein, wir könnten jederzeit wann anders auftreten.
Also in Bethlehem in der Heiligen Nacht zum Beispiel? Weil das von der Ewigkeit aus genauso …
Im Prinzip ja. Aber das könnt ihr von Zeit und Raum aus nicht begreifen. Selbst wir verstehen es nicht wirklich. Nur der Chef.
Dafür gibt es hier Darjeeling-Tee mit oder ohne Milch.
Deswegen bin ich ja auch gerne hier.
Habe leider gerade keinen Tee bei der Hand.
Deswegen habe ich uns Longdrinks mitgebracht.
Das ist jetzt allerdings genau das Richtige, nachdem Herr T mich hier einfach so hat „schweben“ lassen. Aber lieber wär’s mir ohne den Gesang der himmlischen Heerscharen und an einem weniger schwindelerregenden Ort.
Sind schon weg, meine Engelein. – Aber einen Moment bleiben wir noch hier: Machen Sie es sich doch gemütlich.
Auch für mich steht ein Liegestuhl bereit.
Hätte Claus mir das nicht auch bieten können?
Er hat es nicht so mit Dingen, die euch an den „Himmel“ erinnern könnten. Passt nicht zu seiner Sicht auf die Welt.
Ich setze mich und nehme einen Schluck. Jetzt kommt mir der Ausblick wieder grandios vor.
Himmlische Ruhe!
Wenn Sie wüssten, wie es im Himmel manchmal zugeht …
Was verschafft mir die Ehre, Sie so schnell wiederzutreffen?
Ihr anstrengendes Gespräch mit Claus. – Außerdem können wir Sie ja schlecht hier oben schweben lassen.
Also Notfallhilfe und Seelsorge für den Seelsorger?
Sagen wir mal so: Sie sollten nicht nur die Sicht von Herrn T auf die Welt und euch Menschen von diesem kleinen „Ausflug“ mitnehmen.
Liegt er den falsch?
Das nicht. Er hat bloß eine sehr einseitige Perspektive. Ist halt sein Job als Satan.
Ok, und ihr „da oben“ habt eine andere Perspektive.
Aber grundsätzlich hat er recht, wenn er davon spricht, dass wir uns in unsere Türme einmauern?! Oder wenn er das „Gut-sein-wollen“ als einen der schlimmsten unserer Türme bezeichnet!?
Schon. Es ist ja nicht eure Aufgabe, gut zu sein und alles richtig zu machen oder die Welt zu verbessern oder gar vor euch selbst zu retten. Das war mit „bebauen und bewahren“ nicht gemeint.
Also sollen wir sie den Bach runtergehen lassen?
Was euch Menschen so einfällt … Auf sowas krasses würde selbst ein Herr T niemals kommen. Im Gegenteil: Wenn wir jetzt mit Claus im himmlischen Thronrat wären, würde er das dem Chef genüsslich als typisch menschlich aufs Butterbrot schmieren:
„Das siehst du mal wieder den Hochmut der Menschen: Sie wollen die Welt verbessern und meinen, sie geht den Bach runter, wenn sie das nicht tun. Die glauben tatsächlich, der Bestand der Welt hänge von ihnen ab. Dabei denken sie doch nur an ihre eigene kleine Welt mit ein paar schön tapezierten Wänden drumherum.“
Ja, so kann ich mir Claus gut vorstellen. Aber wie würde Gott, also euer Chef, wie würde der reagieren?
Gute Frage. Beim lieben Gott persönlich wissen wir das nie so genau. Der ist immer für eine Überraschung gut. Wer außer ihm wäre jemals darauf gekommen, den eigenen Sohn in eure Welt zu schicken – ohne Netz und doppelten Boden.
Aber wir können ja trotzdem mal überlegen, wie er reagieren würde.
Sie wollten mir ja sowieso die „himmlische“ Sichtweise auf uns Menschen zeigen.
Wenn ich an unser Gespräch gestern Abend denke, vermute ich, dass euer Chef auf jeden Fall gelassen bleiben würde.
Ja, das stimmt. Er würde erstmal sagen: „Claus, ich verstehe ja deinen Ärger. Aber jetzt setz dich erstmal hin, trink ein bisschen Milch und iss ein Honigbrot.“
Kann ich mir nicht vorstellen, dass Claus Milch und Honig mag.
Tut er auch nicht. Aber manchmal vergisst der Chef über seinem weiten Blick auf eure Welt die kleinen Bedürfnisse der himmlischen Wesen. Dann tritt ihn der Heilige Geist zur Erinnerung einmal kräftig gegen das Schienbein. Und wenn der es nicht tut, dann Michael oder ich.
Und dann bekommt Claus eine fränkische Brotzeit, nehme ich mal an.
Meistens sind es eher Leckereien aus Dinslaken und Umgebung.
Nach einer kleinen Essenspause würde der Chef sich dann räuspern und vermutlich so etwas in der Art sagen:
„Ich mag ja die Häuser, die sich die Menschen so bauen – tapeziert oder nicht. Und du, Claus, wohnst in Oberfranken schließlich auch in so einem Haus. Das ist einfach Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit. Dagegen ist doch erstmal nichts einzuwenden.“
Jetzt klingt nicht nur der Teufel, sondern auch noch der liebe Gott wie ein Pfarrer.
Ihr Pfarrer sollt ja auch die „himmlische Botschaft“ verkündigen – mit all ihren unterschiedlichen Facetten.
Also, das Gespräch zwischen dem Chef und T könnte dann ungefähr so weitergehen:
„Bei allem Respekt, Chef: Wärme und Geborgenheit gibt es auch ohne vier Wände! Dazu muss ich mich nicht einmauern.“
„Wohl wahr, Claus, wohl wahr: Aber die Menschen sind nun einmal keine Jäger und Sammler mehr, sondern sesshaft.“
„Und deshalb dürfen sie sich zu Weltverbesserern aufschwingen?“
„Claus, Du weißt doch, dass mich das auch traurig und manchmal wütend macht, wie die Menschen sich immer wieder verrennen in ihrem Eifer, alles richtig und gut und noch besser zu machen. Aber wir dürfen auch nicht die Sehnsucht nach meiner Gegenwart vergessen, die sie antreibt – und die Angst vor der Vergänglichkeit, davor, das zu verlieren, was ihnen lieb und wichtig ist.“
„Aber das treibt sie doch in die völlig falsche Richtung!“
„Claus, wenn du irgendwann sterben müsstest, würdest du die Menschen besser verstehen. Außerdem verbringst du doch viel mehr Zeit auf der Erde als ich: Kennst du da nicht zumindest die Angst, etwas oder jemanden zu verlieren – und die Traurigkeit deswegen?“
Die kennt er tatsächlich! Vorhin, als Claus mich hier einfach so alleine hat in der Luft stehen lassen, da hatte er Tränen in den Augen.
Ja, er ist eigentlich ein sensibler Typ, unser Claus. Aber er zeigt es nicht gerne.
Männer!
Ich nehme einen großen Schluck von meinem Drink.
Also, Pfarrer Thomas, jetzt haben Sie einen kleinen Einblick in unsere „himmlische“ Sichtweise bekommen. Allerdings würde der Chef sicher noch schönere Worte finden als ich sie ihm jetzt in den Mund gelegt habe.
Habt ihr da oben überhaupt Worte?
Das ist jetzt wieder eine gute, aber sehr schwierige Frage. Da lassen wir für heute mal lieber die Finger von.
Aber um nochmal auf den Ausblick hier auf Frankfurt zurückzukommen, den Claus Ihnen gewährt hat …
… den auf die die EZB und die Banken, die Museen und Theater, die Demonstranten, die Impfgegner und -befürworter, die Verschwörungsgläubigen, die Rechtsextremen, die Religiösen, die Autofahrer, die Radfahrer und Fußgänger, die Kirchen und so weiter?
Genau. Da hatte Claus ja angedeutet, dass sie alle „gut“ oder „besser“ sein wollen und deshalb Türme bauen, die bis an ihre Vorstellung vom „Himmelreich“ reichen.
Und Sie hatten bestätigt, dass er recht hat.
Jedenfalls im Prinzip. Aber er vergisst, dass das Gut-sein-wollen eben nicht das eigentliche Motiv von euch Menschen ist. Wir, also vor allem der Chef schaut tiefer auf die Sehnsucht, die dahintersteckt, …
… nach Unsterblichkeit?
Nein: nach Lebendigkeit, nach echter Gegenwart im Leben und in der Gemeinschaft, nach …
… Schalom, um es mit dem hebräischen Wort für umfassenden Frieden auszudrücken.
Genau! – Obwohl Worte ja immer zu wenig sind, um das auszudrücken, was wirklich wichtig ist.
Ja, wir brauchen immer mindestens ein ganzes Wort- und Bildknäuel dafür. Gottes „Herrlichkeit“ und Licht zum Beispiel würde ich noch hinzufügen …
… oder den Regenbogen …
… oder das Wasser …
… oder das Wachstum und die Lebendigkeit in der Natur …
Bei jedem Wort oder Bild prosten wir uns zu und ich sehe Frankfurt und die Welt jedes Mal in einem neuen und anderen Licht.
Dann klappt G den Sonnenschirm und die Liegestühle zusammen …
Nein, kleiner Scherz. G ist samt Sonnenschirm und Liegestühlen einfach verschwunden. Und ich finde mich an meiner Haustür wieder, wo Herr T mich erst vor wenigen Minuten abgeholt hat.
Erst vor wenigen Minuten?
Es ist eben nicht so einfach mit Zeit und Ewigkeit, höre ich Claus und G aus dem Off unisono sagen. Ich muss an Douglas Adams‘ Marvin denken – und an die depressiven Fahrstühle.