künftige Ruinen

Man müßte einmal, sagte er noch, einen Katalog unserer Bauwerke erstellen, in dem sie ihrer Größe nach verzeichnet wären, dann würde man sogleich begreifen, daß die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur rangierenden Bauten es sind – die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schleusenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten –, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, wohingegen von einem Riesengebäude wie beispielsweise dem Brüsseler Justizpalast auf dem ehemaligen Galgenberg niemand, der bei rechten Sinnen sei, behaupten könne, daß er ihm gefalle. Man staune ihn bestenfalls an, und dieses Staunen sei bereits eine Vorform des Entsetzens, denn irgendwo wüßten wir natürlich, daß die ins Überdimensionale hinausgewachsenen Bauwerke schon den Schatten ihrer Zerstörung vorauswerfen und konzipiert sind von Anfang an im Hinblick auf ihr nachmaliges Dasein als Ruinen.

aus „Austerlitz“ von W. G. Sebald

2 Antworten auf „künftige Ruinen“

  1. Eine Stadt und einen Turm wollen die Menschen bauen – einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht. Ohne Pause, ruhelos, bis zur Erschöpfung arbeiten sie und lassen sie arbeiten an diesem Projekt, ihr Territorium abzustecken, ihren Lebensraum durch feste Mauern zu sichern, ihre Größe und Macht zu demonstrieren, schließlich sogar Gott nahe zu kommen aus eigener Kraft.
    Wie viele Opfer dieser Wahnsinn wohl fordern wird?
    Wir wissen aus Genesis 11: Solch ein Turmbau wird kein gutes Ende finden. Gott wird die Menschen vor ihrem eigenen Hochmut, ihrer Unruhe und Rastlosigkeit schützen, indem er sie in alle Welt zerstreut. Ihrem Streben nach der Vollbringung des Unmöglichen wird damit ein Dämpfer versetzt. Aber die Sehnsucht nach Größe und Macht und nach dem Himmel bleibt: Sie erobern Länder, unterwerfen und versklaven andere Menschen, bauen Paläste … – und Heiligtümer, um wenigstens dort Gott nahe zu sein und an seiner Macht teilzuhaben.

    [aus meinem kleinen Artikel über A. J. Heschels Theologie des Sabbat, den es auf dieser Seite auch als PDF zum Herunterladen gibt:
    https://usercontent.one/wp/lebendige-gegenwart.de/wp-content/uploads/2019/11/Sabbat-Artikel-für-Quatember-2015-Endfassung.pdf ]

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