Die ‚Bibelstunde‘ mit Herrn T war zu Ende. Wir wandten uns wieder dem Ausblick auf Frankfurt zu: Bankentürme; Kirchtürme; Börse; Straßen mit Autos; Museen; … Wie auch immer Herr T das anstellte: All das sah ich bis in die kleinsten Details; und darüber hinaus gleich noch die Geschichte und Geschichten dazu. Wir standen auch nicht mehr in der Bibliothek, sondern auf dem Dach des ehemaligen IG-Farben-Gebäudes. Oder war es etwa die Spitze des Messeturms?
Ich sehe schon, Sie sind mal wieder verwirrt.
Vielleicht ist für Sie in Ihrer ‚Firma‘ ja so ein Ausblick nichts Besonderes. Ich muss mich erst daran gewöhnen.
Nichts Besonderes ist das eher für die da ‚oben‘ … Aber selbst die reiben sich beim ersten Mal die Augen oder bekommen einen Schwindelanfall. Alle außer dem Chef natürlich. Für den ist eine solche Perspektive der Normalfall.
Nochmal zurück zur Geschichte vom Turmbau zu Babel: Sie haben gewusst, dass mich diese Bibelstelle schon lange beschäftigt, stimmts?
Natürlich! – Tut mir leid, dass ich nicht ganz offen war. Blöd von mir.
Und wissen Sie was: Ich finde es auch ziemlich blöd, dass wir uns immer noch Siezen. Da ich eindeutig der Ältere von uns beiden bin: Wollen wir nicht Du sagen?
Von mir aus: Ich bin Thomas, aber das wissen Sie … weißt du ja. Und deiner seltsamen Email-Adresse nach zu schließen bist du Claus, richtig? So hat jedenfalls auch Gabriel von dir gesprochen.
Genau – also zumindest bin ich in Franken so gemeldet.
Und das S vor dem Claus in der Email-Adresse? Kleiner Witz mit „Santa Claus“?
Na klar!
Der Teufel als Weihnachtsmann oder als Heiliger Nikolaus?
Herr T, also Claus, lächelte.
Ach so, jetzt verstehe ich: Santa ist ein Anagramm zu Satan!
Irgendwo musste ich doch meine wahre Identität verstecken. Satan bin ich schließlich viel eher als das, was ihr landläufig so unter Teufel versteht.
Herr T zauberte eine Sektflasche und zwei Gläser in die Luft über Frankfurt und wir stießen aufs Du an.
Kleiner Service der Firma: alkoholfreier Sekt, der im Geschmack von echtem Sekt nicht zu unterscheiden ist.
Hätte ich auch nicht gedacht, dass mich das mit dem Teufel verbindet: eine Vorliebe für alkoholfreie Getränke.
Tja: Ihr Menschen liegt meistens ziemlich daneben, wenn es darum geht, was euch mit mir verbindet und was nicht …
Immer diese Andeutungen von dir.
Also, zurück zu unserem Ausblick auf Frankfurt: Was siehst du?
Jedenfalls mehr als ich sehen würde, wenn du nicht dabei wärst.
Aber trotzdem fallen hier in Frankfurt als erstes die Hochhäuser auf – zumal wenn es um Türme geht. Und dann die Kirchtürme. Außerdem ein Meer von Hausdächern und Autos, Autos, Autos. Die Börse. Und hinter der Paulskirche die Schirn Kunsthalle – und überhaupt eine ganze Reihe Museen. Und halt Menschen.
Schau mal da hinten: Eine Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen.
Ja, wie in letzter Zeit schon oft: Anhänger von Alternativmedizin, Verschwörungsgläubige, Impfgegner, ein paar Rechtslastige und so weiter.
Schöne Etiketten hängst du den Demonstranten da an, um deinen „Abstand“ zu ihnen zu zeigen.
Ok, stimmt: Sind sicherlich auch eine ganze Menge Christen dabei. Und die meisten der Demonstranten haben grundsätzlich erst einmal nachvollziehbare Motive für ihre Ansicht zu Corona und so. Aber trotzdem …
Trotzdem was?
Trotzdem … ist es doch … darf man sich doch … oder dürfen schon, aber man sollte sich doch nicht so in seine eigene Meinung, wie soll ich sagen, … einmauern.
Das würden diese Leute vermutlich genauso von dir sagen und von allen, die anderer Meinung sind.
Das ist ja genau das Problem. Unterschiedliche Wahrnehmungen der Wirklichkeit gab es schon immer. Aber der Graben zwischen ihnen wird inzwischen immer mehr zum unüberbrückbaren Abgrund.
Oder – weil du ja eben von „einmauern“ gesprochen hast – zur unüberwindbaren Mauer.
Das ist übrigens ein gutes Bild. Denn diese Mauer, würde ich sagen, ist die Mauer des Turmes, den Menschen sich bauen.
Das hätte jetzt auch ein Pfarrer sagen können in einer Predigt oder Andacht. Dabei waren es Worte aus dem Mund des Teufels.
Warum sollte ich das nicht können, was ihr könnt?
Ja, warum eigentlich nicht. Schließlich bist du viel länger und viel näher dran an Gott und der Welt als jeder von uns.
Du meinst also, wir Menschen mauern uns alle ein in unsere eigenen Ansichten wie in Türme?
So ungefähr. Vielleicht sollte ich besser sagen, in eure eigene Welt: manche allein, manche gemeinsam, die meisten vermutlich auch noch in verschiedene Türme, also Welten.
Das geht jetzt aber doch ziemlich durcheinander …
Schau dir das Durcheinander in der Welt doch an … oder auch nur in Frankfurt hier. Außerdem: Ich bin doch der „Durcheinanderbringer“, wie du in deiner Predigt ausgeführt hast.
Es sind aber doch nicht alle Menschen gleich „eingemauert“, wenn wir im Bild bleiben. Es gibt Menschen, die über unterschiedliche Weltanschauungen hinweg miteinander verbunden sind – ohne Mauer und Graben.
Du meinst jetzt bestimmt dich zum Beispiel.
Zumindest bemühe ich mich, hoffe ich. Und sind wir beide nicht ein gutes Beispiel für die Überwindung eines ziemlich tiefen Grabens?
Es erstaunt mich, dass du immer noch davon ausgehst, dass wir beide, also Theologe und Teufel oder auch Mensch und Teufel, unterschiedliche Weltsichten hätten.
So gesehen …
Aber lass uns doch wieder auf Frankfurt und die Menschen hier schauen: Hier wird doch kein Turm gebaut, der bis an den Himmel reichen soll.
Wie man‘s nimmt. Natürlich will kaum einer hier bis an den Himmel. Aber sich einen Namen machen … und bis dahin kommen, was jede und jeder sich so unter seinem „Himmelreich“ vorstellt …
Also frei nach Luther: Woran du dein Herz hängst, das ist dein Himmelreich …
… und du wirst einen Turm bauen, der bis dorthin reicht – koste es, was es wolle.
Sozusagen unsere inneren Türme …
… die oft genug aber auch zu sichtbaren Türmen, Mauern, Gräben oder ähnlichen Dingen führen.
Zum Beispiel die Bankentürme.
Ja. Aber auch unabhängig von Banken Hochhäuser allgemein. Es ist doch erstaunlich, wie aktuell die alte Geschichte vom Turmbau auch ganz wörtlich genommen noch immer ist: Ständig möchte irgendein Staat das höchste Gebäude der Welt bauen, um sich – das darf man wohl sagen – einen Namen zu machen; und sicher auch mit dem Hintergedanken, den Zusammenhalt der Menschen im Staat zu stärken. Also genau wie damals!
Da hast du Recht. So ähnlich ist es wohl auch mit den Palästen der Fürsten, den Tempeln und auch noch den Kirchtürmen hier in Frankfurt. Aber was ist jetzt mit den inneren Türmen?
Na, die sind da, überall, auch hier in Frankfurt. Nimm zum Beispiel den Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit: Zigtausende von Privatautos sind der Ausdruck dafür.
Da ist man dann tatsächlich von Blechmauern umgeben. Aber für einen Turm sind Autos doch recht niedrig. Ich fand es schon immer eigenartig, dass Fußgänger und Radfahrer ein normales Auto deutlich überragen.
Die haben auch ihre Türme. Sie fühlen sich zum Beispiel den Autofahrern „moralisch“ überlegen in Zeiten des Klimawandels.
Radeln und Laufen ist doch aber in dieser Hinsicht auch besser als Autofahren.
„Besser“, „schlechter“, „böse“, „gut“ – Das Gut-sein-wollen ist vermutlich einer der übelsten Türme, den ihr Menschen baut.
Weil der Baum der Erkenntnis des „Guten“ und „Bösen“ der Anfang der Sünde war?
Da müssten wir jetzt wieder in eine komplizierte theologische Diskussion einsteigen. Belassen wir es doch vorerst mal bei einigen Beispielen, die wir hier sehen: Was verbindet die EZB, die Impfgegner und -befürworter, die Verschwörungsgläubigen und vermutlich sogar die Rechtsextremen miteinander – und vermutlich auch die meisten religiösen Menschen?
Wenn du das an dieser Stelle fragst: Vermutlich wollen sie „gut“ sein.
Ob sie das alle so sagen würden, weiß ich zwar nicht. Aber jedenfalls wollen sie die Welt, jedenfalls ihre Welt, „besser“ machen und glauben, auf dem „richtigen“ Weg dahin zu sein – oder eben den „richtigen“ Turm zu bauen, der bis dorthin reicht.
Du siehst uns Menschen in einem ziemlich schlechten Licht! Macht es dir eigentlich Freude, die Menschen so in den Senkel zu stellen?
Keineswegs. Das glauben zwar viele Menschen vom Teufel, dass er sich über das Unglück der Menschen freut. Aber das ist Quatsch. Im Gegenteil: Es tut mir weh, das zu sehen! Da geht es mir ganz ähnlich wie vielen Propheten.
Warum beharrst du dann so darauf?
Weil es meine Aufgabe ist – vom Chef höchstpersönlich. Das solltest du als Theologe doch wissen. Satan ist der Ankläger, gewissermaßen der Staatsanwalt, der aufdeckt, was schief läuft.
Traurig, dass du dich immer nur mit den schlimmen Dingen beschäftigen musst. Jetzt wundert mich nicht mehr, dass der Chef dir eine Art Seelsorger an die Seite stellen wollte.
Claus schwieg.
Sag mal, hast du Tränen in den Augen?
Nein, nein, das ist nur der scharfe Wind hier oben auf dem Messeturm. Ich werde mich mal auf den Weg zurück nach Oberfranken machen.
Aber du kannst mich doch nicht …
Aber Herr T war schon verschwunden. Und ich schwebte hoch über der Spitze des Frankfurter Messeturms – mit einzigartigem Ausblick, einem Sektglas in der Hand und …